INTERVIEW

Der dritte Turn der Philosophie



TEXT:
MICHAEL FEUERSENGER


Die Gegenwart im Gespräch mit Professor Klaus Müller über die Herausforderungen des Informationszeitalters für die Philosophie. Klaus Müller ist Leiter des Seminars für Philosophische Grundfragen der Theologie innerhalb der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
 
Herr Professor Müller, in der Ahnenkette der philosophischen Projekte Vernunft-Kritik und Sprach-Kritik ist das 21. Jahrhundert offensichtlich von einem neuen philosophischen Paradigma geprägt. Der Datenkritik. Inwiefern stellt die Daten-Kritik die Philosophie vor neue Aufgaben?

 
Müller: Ohne Zweifel ist davon zu sprechen, dass sich nach der Vernunftkritik, wie sie ein Immanuel Kant formuliert hat, und nach der Sprachkritik, dem so genannten linguistic turn, wie er wesentlich durch Ludwig Wittgenstein ins Werk gesetzt worden ist, nun eine neue, große philosophische Aufgabe stellt, eine Kritik der Daten oder ein iconic turn, die Wendung zu den Bildern hin. Die Art und Weise, wie die neuen Medien in unsere Lebenswelt eingreifen, wird nachhaltig die Art und Weise verändern, wie wir uns selber und unsere Welt beschreiben, und genau an diesem Punkt setzt die philosophische Aufgabe einer kritischen Reflexion auf diese Neufassung unserer Welt- und Selbstbilder ein.

 
Stellen sich im Kontext der Cyber Philosophy alte Fragen der Geistesgeschichte neu? Insbesondere die Frage nach der Identität lässt eine Wiederentdeckung alter Bekannter wie Foucault und Lyotard wahrscheinlich werden.

 
Müller: Die historischen Zusammenhänge, die in der Cyber Philosophy präsent sind, reichen ungleich weiter zurück als zu Foucault und Lyotard. Eine erstaunliche Anzahl von Autoren, die sich als Computerphilosophen verstehen, machen präzise Rückgriffe auf philosophische Traditionen. Dabei spielen in besonderer Weise mittelalterliche Erkenntnistheorien, namentlich muslimische Philosophen wie Avicenna immer dann eine große Rolle, wo in ihren Konzeptionen Ideen einer überpersonalen Vernunft verhandelt worden sind, an der die Individuen teilhaben. So sagen dann die Cyberphilosophen im Kontext des Avicenna, der meint, es gebe ein Konzept des Überindividuellen, und jeder einzelne partizipiere in seinem Denken an einem großen Ganzen: Wir haben dieses große Ganze geschaffen. Genauso wird die Idee Teilhard de Chardins, jenes großen katholischen Vordenkers des 20. Jahrhunderts und heimlichen Patrons der Cyberphilosophie, von einer Noosphäre bemüht, das meint eine weltumgreifende Wesenhaftigkeit von Intellekt. Hier heißt es dann, diese sei heute technisch geschaffen.

 
Immer wieder wird die Art von Information und Kommunikation über die neuen Medien, über das Internet kritisch angefragt. Meinungsmache - Manipulation - Instrumentalisierung der Öffentlichkeit bilden dabei den Kanon der Vorbehalte. Zu Recht? Wer hängt drin, wer hängt dran, wer empfängt und reflektiert Nachrichten, wer sendet sie und mit welcher Absicht?
 
Müller: Meinungsmache - Manipulation - Instrumentalisierung hat es immer schon gegeben, wo mit Medien gearbeitet wurde. Allerdings ist die Manipulierbarkeit durch die neuen Medien gestiegen. Im Prinzip kann heute jeder jeden erreichen und jeder kann jede Nachricht, etwa Bildnachrichten, „bearbeiten", um es vorsichtig zu sagen. Das hat zur Folge, dass eine grundsätzliche Verlässlichkeit von Nachrichten öffentlich insgesamt in den Hintergrund treten wird. Das heißt, es wird so etwas wie einen Grundverdacht gegen gesendete Nachrichten geben.
 
 
Kann es überhaupt objektive Berichterstattung, objektive Information geben?
 
Müller: Es kann gut sein, dass sich im Kontext der Cyber Philosophy der Begriff der Objektivität auflöst. Auf ganz neue Weise stellt sich ja im Kontext der neuen Medien eine uralte Frage der Philosophie, die sich schon in der Zeit der Vorsokratiker bewegt, nämlich die nach der Differenz von Sein und Schein.

 
 Gibt es so etwas wie zwei Realitäten? Stichwort virtuelle Wahrheit.
 
Müller: Diese Differenz gehört, wenn man den entsprechenden Verlautbarungen der Cyberphilosophen Glauben schenkt, aufgehoben. Es geht nicht mehr darum, zwischen Sein und Schein zu differenzieren, sondern darum, diese Grenze bewusst zu kaschieren und zu sagen: Wir brauchen diese Grenzziehung nicht. Um nur ein Beispiel aufzurufen: Peter Sloterdijk hat vor einigen Jahren bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele in einem Festvortrag gesagt, die Unterscheidung von Sein und Schein sei nichts anderes als eine halbarchaische Konfliktfolklore, über die die Generation nach uns nur noch lachen kann.
 
Cyberphilosophie ist gleichzeitig ethische Debatte - oder zumindest der Anlass einer solchen. Was ist im Kontext der Telemediatisierung aus Ihrer Sicht zum Begriff Ethik zu sagen?

 
Müller: Die neuen Medien haben unzweifelhaft eine neue Ethikdebatte angestoßen, die sich bis heute besonders dadurch auszeichnet, einigermaßen orientierungslos zu verlaufen. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass der so genannte Cyberspace nach wie vor ein weitgehend rechtsfreier Raum ist. Es ist schwierig, von nationalen Gesetzgebungen her den content, die Inhalte, die im world wide web angeboten werden, durch bestimmte Kriterien zu filtern. Umgekehrt gibt es sozusagen selbsternannte Cybercops, Aufseher im Netz, die sich anmaßen, Normen für Dinge zu erstellen, die im Netz angeboten werden dürften oder nicht, ohne dafür öffentlich legitimiert zu sein. Eines der besonders brisanten Beispiele ist das der Kinderpornographie. Was etwa in Deutschland strikt verboten ist, lässt sich in Holland ohne weiteres anbieten.

 
Gibt es Grenzfälle?

 
Müller: Es gibt längst Produzenten von Kinderpornographie, vornehmlich aus Übersee, die keine echten Sexaufnahmen anbieten, sondern manipulierte Bilder verwenden, die künstlich hergestellt sind. Sobald einer der Anbieter beweisen kann, dass er keine authentischen Sexaufnahmen angeboten hat, sind seine Angebote straffrei.

 
Die aktuell dominierenden Vermittlungskanäle von Information haben der Wissensgesellschaft eine neue Struktur gegeben. Sie polarisieren, und dieser Prozess ist nicht etwa abgeschlossen, sondern in vollem Gange. Es gibt den User und den Nicht-User. Ist so etwas wie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft der „Aufgeklärten“ und der „Nicht-Aufgeklärten“ denkbar?

 
Müller: Eine ganze Zeit lang verband sich mit den neuen Medien die Hoffnung auf einen neuen Areopag. Der frühere amerikanische Vizepräsident Al Gore sprach davon, nicht anders ein Jürgen Habermas in Deutschland. Mittlerweile ist völlig klar, dass die neuen Medien in keiner Weise ein wirkliches Forum einer allgemeinen großen Öffentlichkeit darstellen, sondern selber wieder ihrerseits massive gesellschaftliche Differenzen erzeugen, etwa die Differenz zwischen Users und Losers, also denen, die mit den neuen Medien umgehen können, denen, die es nicht können, und bei den Usern wiederum die Differenz zwischen denen, die sie nur nutzen, und denen, die programmieren können und damit erhebliche Zugangs-berechtigungsprobleme erzeugen.
 
In diesem Zusammenhang ist immer wieder vom so genannten „Kogitariat“ die Rede. Bitte geben Sie eine kurze Erklärung dieses Begriffs und seiner Bedeutung.
 
Müller: „Kogitariat“ ist ein neues Kunstwort, das diejenigen bezeichnet, die sowohl die Nutzung als auch die Programmierung der neuen Medien kontrollieren, ja gewissermaßen in der Hand halten und gesamtgesellschaftlich eine wirkmächtige Minderheit ausmachen.

 
Sie sind Ordinarius am Seminar für Philosophische Grundfragen der Theologie in Münster. Und Sie sagten einmal, Sie seien von Hause aus Homiletiker. Deshalb soll es jetzt um Kirche und Medien gehen. Ist es aus Ihrer Sicht ein Muss, ein Soll, dass die Kirche die neuen Medien nutzt, um neue Vermittlungskanäle, die vielfältig gesellschaftlich frequentiert werden, zu nutzen, um - modern gesprochen - ihre Message überhaupt noch transportieren zu können? Inwiefern erkennen Sie in der kirchlichen Auseinandersetzung mit den neuen Medien bisher Mängel, inwiefern positive Elemente?

 
Müller: Apostelgeschichte 17 handelt davon, wie Paulus auf dem Areopag in Athen zu predigen beginnt und inmitten eines Zentrums antiken Denkens einen riesigen Reinfall erlebt. Dennoch ist seine Mission, alle Völker seines damaligen „Erdkreises“ zu evangelisieren, gelungen. So werden die Kirchen auch den Areopag der neuen Medien nicht scheuen. Das ist selbstverständlich. Momentan habe ich den Eindruck, dass die kirchliche Auseinandersetzung mit den neuen Medien eher naiv optimistisch verläuft. Ich denke, dass einer der Grundsätze des - übrigens katholischen - Medienpapstes Marshall McLuhan, den er bereits in den 60er Jahren formuliert hat, ernst genommen werden muss: Medium is the message. Die vielleicht größte Herausforderung für die christlichen Kirchen besteht darin, wahrzunehmen, dass sich im Raum der Cyber Philosophy selber Züge einer Art moderner Religiosität ausbilden, von denen noch gar nicht abzusehen ist, in welche Richtung sie sich entwickeln werden. Ich kenne eine ganze Reihe von cyberphilosophischen, man könnte fast sagen cybertheologischen Traktaten, die überzeugt sind, selber Ausdruck einer neuen Religion und Philosophie des 21. Jahrhunderts zu sein.

 
Abschliessend bitte ein persönliches Plädoyer für den Menschen. Gegen seine Degradierung zur ”Wetware“ in Bezug auf die bereits angeklungene These von Michel Foucault - die These vom Ende des Menschen als solchem.

 
Müller: Die größte Herausforderung, die sich mir als Philosoph und Theologen durch die neuen Medien stellt, ist die Art und Weise, wie in dieser neuen Form von Welt- und Selbstbeschreibung mit dem konkreten Menschen umgegangen wird. Es fiel soeben das Stichwort von der ”Wetware“, also von Feuchtware oder dem Wassersack, wie dieses Schlagwort  zuweilen gern übersetzt wird. Das heißt, die neue Anthropologie, übrigens oft auch als postbiologisches Humanprojekt bezeichnet, tut sich außerordentlich schwer mit dem, was man die Fleischlichkeit des Menschen nennen könnte, seine Vergänglichkeit, seine Körperlichkeit, seine Leiblichkeit. Da sehe ich eine besondere Konfliktlinie zur christlichen Botschaft, die von der Idee der Inkarnation her gerade dem Leiblich-Fleischlichen des Menschen eine außerordentlich hohe Würde einräumt. Es gibt Programme im Rahmen der Cyber Philosophy, die darauf angelegt sind, Versuche einer Überwindung dieser Leiblichkeit und Fleischlichkeit des Menschen zu konzipieren. Die große Herausforderung der christlichen Verkündigung und der christlichen Kirchen wird darin bestehen, so etwas wie eine inkarnatorische Homiletik, also eine auf die Würde der Leiblichkeit einschließlich ihrer Vergänglichkeit hin gedachte Form der Verkündigung zu entwickeln.


 


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